Interview Putin im Wartezimmer

Was hat Sie dazu motiviert, mit Putin im Wartezimmer den Überfall Russlands auf die Ukraine literarisch zu verarbeiten?

Das Buch entstand als ungeplantes Wunschkind. Nach der »Zeitenwende« am 24.2.2022 fand ich es schwierig, Themen als wichtig genug zu empfinden, um darüber zu schreiben. Meine eigene Auseinandersetzung mit den Ereignissen legte ich einer Protagonistin in den Mund: Durch die Verwandlung in Geschichten wird Bedrohliches besser verdaulich. Darüber zu schreiben, war für mich eine Art Psychotherapie.

Wie kamen Sie auf die Idee, als Schauplatz der Geschichte ausgerechnet das Wartezimmer einer Arztpraxis zu wählen?

Ursprünglich sollte Putin im Wartezimmer Teil einer Anthologie von Geschichten aus dem Gesundheits-Wesen sein. Eine dieser Kurzgeschichten wollte ich den Hausärzten widmen, deren stetigen Schwund ich mit Sorge betrachte, da er unser Sozialgefüge nachhaltig verändern wird. So fanden der Ukrainekrieg und das Hausarztsterben spontan zueinander.

Zwar schilden Sie in Ihren Büchern fiktive Inhalte, jedoch fällt schon in Ihren beiden ersten Romanen Ypsilons Rache und Amazonah ein ungewöhnlich umfangreiches Quellenverzeichnis ins Auge. Ist die detaillierte Recherche eines Ihrer Markenzeichen?

Zumindest ist sie ein Anliegen, das mir wohl in meinem ersten Leben als Medizinerin in Fleisch und Blut übergegangen ist. Für jede wissenschaftliche Publikation ist Recherche unerlässlich, da man eigene Ergebnisse und Schlussfolgerungen stets im Vergleich mit den bisherigen Forschungsergebnissen darstellen und werten muss.

Persönlich finde ich es ansprechend, wenn seriös recherchierte Inhalte, durch verschiedene Protagonisten aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden. Doch ich kann mir vorstellen, dass manche Leser die Faktenfülle als Überfrachtung empfinden, die dem Unterhaltungswert abträglich ist. Sehen auch Sie dieses Risiko, und warum ist Ihnen die Faktentreue auch in der Belletristik wichtig?

Dieses Risiko nehme ich sehend in Kauf. Zwar haben Romanautoren die Freiheit, Szenarien zu erfinden, die einem Faktencheck nicht unbedingt standhalten müssen ­ ich selbst mag dieses Privileg aber nur bedingt nutzen und erzähle gerne Geschichten, die sich so weit an bestehenden Realitäten orientieren, dass sie plausibel sind und dennoch unterhaltsam bleiben.

Die Kapitel werden immer einem Datum zugewiesen. Sind diese Daten zufällig gewählt oder folgen Sie dem realen Verlauf der Ereignisse im Jahr 2022?

Die Diskussionen orientieren sich strikt an dem zum jeweiligen Datum aktuellen Geschehen. Meist werden auch Beispiele der aktuellen Berichterstattung im Quellenverzeichnis aufgeführt. Dabei war mir bewusst, dass ein Text, der sich mit laufenden Ereignissen beschäftigt, schnell von diesen überholt werden kann. Dennoch fand ich es lohnend, in der Rückschau den jeweiligen Stand der Diskussionen festzuhalten, in der Hoffnung, damit ­ auch retrospektiv ­ Entwicklungen nachvollziehbar zu machen.

Sie lassen die Gruppe im Wartezimmer gelegentlich auch geschichtliche Entwicklungen diskutieren, die lange vor dem Krieg lagen. Auch dazu zitieren Sie historische Literatur. Warum war Ihnen das wichtig?

Der Ausbruch des Krieges rief bei den meisten Menschen nicht nur Entsetzen, sondern auch Fassungslosigkeit hervor, da der Überfall so wenig nachvollziehbar schien. Das gesamte Kriegsgeschehen wird etwas verständlicher, wenn man anhand der russisch-ukrainischen Geschichte seit dem Zeitalter des Rus im 9. Jahrhundert begreift, dass und warum die politische Logik der westlichen Welt sich nicht auf die russische Mentalität übertragen lässt.

Das Cover und die Abbildungen im Buch wurden wieder von dem New Yorker Künstler Daniel Horowitz gestaltet. Was sollen die Motive vermitteln?

Es ist Daniel Horowitz erneut gelungen, die zentralen Inhalte des Romans in minimalistischer Weise künstlerisch umzusetzen. Auf dem Cover spürt man förmlich das Ticken der Zeitbombe, die Putin für die Welt darstellt, die aber auch für ihn selbst ein Schleudersitz ist. Die Illustrationen im Buch werfen ein Schlaglicht auf das Hauptthema des jeweils folgenden Kapitels.

Den Abbildungen liegt das Prinzip des Rorschach-Tests zugrunde. Was war die Idee dahinter?

Bei diesem Psycho-Test bekommt der Proband abstrakte Tintenklecks-Bilder vorgelegt und muss frei assoziieren, was er darin zu sehen meint. Das soll Aufschluss über seine Psyche, vor allem über sein Unbewusstes geben. Dieser Test macht deutlich, was die Diskutanten im Wartezimmer bei ihren politischen Diskursen erleben: Sobald mehrere Menschen das Gleiche betrachten, entstehen unterschiedliche Wirklichkeiten.

Auf dem Cover stolpert man über den Begriff politischer (Arzt-)Roman. Ein solches Genre war mir bislang nicht bekannt und weckt Assoziationen in Richtung Trivial-Literatur. War das Absicht?

Das wurde augenzwinkernd in Kauf genommen. Die Zuordnung von Literatur in bestimmte Genres mag im Hinblick auf Marketing und Auffindbarkeit im Netz sinnvoll sein ­das Einsortieren in Schubladen kann aber auch zu Fehletikettierungen führen, die ein Buch schablonenhaft auf bestimmte Teilaspekte reduzieren.

Bringt der Roman Ihre eigenen politischen Überzeugungen zum Ausdruck?

Ich habe als Autorin nicht die Intention, Menschen von meiner politischen Einstellung zu überzeugen. Vielmehr möchte ich verschiedene Standpunkte darstellen und es dem Leser überlassen, welche Schlussfolgerungen er daraus zieht.

Mit welchen Gefühlen erleben Sie den Jahrestag des Ukraine-Krieges, zu dem „Putin im Wartezimmer“ erscheint?

Es ist ein bisschen wie die Vertreibung aus einem Paradies, in dem wir uns glaubten, obwohl es nie wirklich existierte: Wir waren der kollektiven Illusion erlegen, Frieden sei selbstverständlich. Nach einem Jahr Krieg ist der akute Schock chronisch geworden und macht damit die Angst weniger spürbar. Das ist ein Selbstschutzmechanismus, der bei allen Menschen wirksam, aber nicht ungefährlich ist. Neben den konkreten Bedrohungen durch den Krieg und seine Auswirkungen, sehe ich eine große Gefahr darin, dass die anfängliche Betroffenheit in Gleichgültigkeit übergeht und die Motivation mindert, sich unter Aufbietung sämtlicher Kräfte für eine friedliche Zukunft zu engagieren.

Das Gespräch führte Verlagsberater Andreas Pawlenka aus Kronberg

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